News & Aktuelles

Aktuelles

80 Jahre Kriegsende: Votum zum 8. Mai

8.5.2025

Votum des Ausschusses für Demokratie und Gerechtigkeit des Evangelischen Kirchenkreises Siegen-Wittgenstein zum 8. Mai:

 

„Mutig – stark – beherzt“, so lautet die Losung des Evangelischen Kirchentags 2025. Mutig, stark und beherzt sein, das sind unabdingbare Grundkompetenzen, um einen Krieg zu beenden. Diese Fähigkeiten werden noch bedeutender, wenn nicht nur die Abwesenheit von Krieg, sondern echter Frieden, also der allumfassende Shalom Gottes, verwirklicht werden soll. 

 

Mit Abigail liefert uns die Bibel in 1. Samuel 25 ein „role-model“ für’s Mutig-Sein. Abigail ist mit Nabal, einem erfolgreichen Bauern verheiratet. Ungefragt, aber äußerst effektiv, schützen David, der spätere König Israels, und seine Männer Nabals Hirten und Herden. Als David eine Gegenleistung einfordert, weist Nabal ihn schroff und demütigend zurück. Diese Abfuhr reizt Davids Zorn. Er will Nabal, seine Hirten und seine Sklaven töten. Was die Bibel jetzt erzählt, macht unmissverständlich deutlich: diese gewalttätige Reaktion Davids entspricht nicht dem Willen Gottes! Und so wird Abigail zu Gottes Werkzeug. Eine Frau verhindert Krieg und rettet Leben. Sie belädt Lastesel mit Wein, Fleisch, Rosinen- und Feigenkuchen und reitet der Streitmacht Davids entgegen. Es kommt zu einer denkwürdigen Begegnung: hier David in höchster Aggressionslust auf dem Vormarsch zu Nabals Gütern und dort Abigail mit Grundnahrungsmitteln und Süßem obendrauf. Abigail wirft sich vor David in den Staub. Obwohl schuldlos, nimmt sie Schuld auf sich und übernimmt Verantwortung. Sie stellt Davids Ehre wieder her. Ganz wichtig, neben allerlei Köstlichkeiten hat Abigail den Segen Gottes im Gepäck. Sie segnet David und richtet ihn so auf seine künftige Rolle, also sein König-Sein, aus. Unter Gottes Segen erkennt David dessen Wille: Gott will nicht, dass ich Blut vergieße.

 

Am 8. Mai 1945 schwiegen in Europa die Waffen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wahrer Friede war das noch nicht. Es brauchte Christinnen und Christen, die, wie in der Stuttgarter Schulderklärung, Missverhalten eingestehen können: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden… Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben… Wir hoffen zu Gott, dass der Geist des Friedens und der Liebe zur Herrschaft komme, in dem allein die gequälte Menschheit Genesung finden kann.“ Es brauchte Menschen wie die Christen der Zionsgemeinde in Evansville im US-Bundesstaat Indiana, die ein knappes Jahr nach Kriegsende 6.000 Dollar, heute rund 90.000 Euro, für eine Not-Holzkirche in Siegen spendeten. Es brauchte Menschen wie den US-Präsidenten Harry S. Truman und den britischen Premierminister Winston Churchill, die den Deutschen Demokratie lehrten. Es brauchte Menschen wie den französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer, die die „Erbfeindschaft“ zwischen Deutschen und Franzosen überwanden. Es brauchte Menschen wie Bundeskanzler Willy Brandt, der sich zwar nicht wie Abigail in den Staub warf, aber auf die Knie ging, damit Versöhnung möglich wurde. Weil eine Geste nicht selten mehr bewirkt als tausend Worte. Brandts Versöhnungspolitik eröffnete Optionen, die schlussendlich den Weg zur Wiedervereinigung bahnten. Somit wurde der 9. November 1989, wenn schon nicht der 8. Mai 1945, für die Menschen im Osten Deutschlands zum Tag der Befreiung.

 

Apropos Befreiung: 24 Jahre nach Kriegsende traute sich Gustav Heinemann als erster Bundespräsident, öffentlich von Befreiung zu sprechen: „Wir haben das Hitler-Regime nicht zu verhindern gewusst und auch nicht aus eigener Kraft abgeschüttelt. Umso mehr haben viele Menschen auch in Deutschland seinen Zusammenbruch als Befreiung empfunden.“ Allerdings wagte Heinemann diesen Satz nicht in Deutschland, sondern während eines Staatsbesuchs in den Niederlanden im November 1969. Heinemanns Nachfolger Walter Scheel durfte zum 30. Jahrestag klare Worte sprechen, jedoch nicht im Bundestag, sondern in der Bonner Schlosskirche vor überschaubarer Gästeschar: „Am 8. Mai 1945 brach das nationalsozialistische Regime endgültig zusammen. Wir wurden von einem furchtbaren Joch befreit, von Krieg, Mord, Knechtschaft und Barbarei. Und wir atmeten auf, als dann das Ende da war. Aber wir vergessen nicht, dass diese Befreiung von außen kam, dass wir, die Deutschen, nicht fähig waren, selbst dieses Joch abzuschütteln.“ Erst weitere zehn Jahre später hielt Richard von Weizsäcker seine historisch gewordene Rede im Bundestag und erklärte ohne Wenn und Aber: „Und dennoch wurde von Tag zu Tag klarer, was es heute für uns alle gemeinsam zu sagen gilt: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ 

 

Der gesellschaftliche Konsens, den von Weizsäcker 1985 konstatierte, gerät aktuell ins Wanken. So spricht die AfD-Vorsitzende im ARD-Sommerinterview 2023 wieder vom Tag der Niederlage. Der mit beschämenden Tatsachen konfrontierende Weg aus den Verstrickungen in Schuld und Sünde scheint noch nicht komplett zurückgelegt. Um dem Erbe des Stuttgarter Schuldbekenntnisses der Evangelischen Kirche in Deutschland gerecht zu werden, sind Christinnen und Christen besonders aufgefordert, unmissverständlich und unüberhörbar das Wort zu ergreifen. Immer dann, wenn Schuld und Verantwortung bestritten oder relativiert werden, wenn historische Fakten negiert oder verdreht werden, wenn versucht wird, den demokratischen Rechts- und Sozialstaat in ein diskriminierendes, rassistisches Regime umzubauen. Nicht nur in Deutschland, sondern überall auf der Welt.

 

Abigail stellt den Segen Gottes als Alternative gegen Gewalt und Krieg. Sie verhindert damit Mord und Totschlag. Als Kirche bringen wir die Verheißung Gottes in den aktuellen, von Begriffen wie kriegstauglich und verteidigungsbereit dominierten, gesellschaftlichen Diskurs ein. Unter dem Segen Gottes gewinnt nicht nur David, sondern die gesamte Menschheit Zukunft. Unter dem Segen Gottes geht uns ein Licht auf: Da Gott selbst Zukunft schenkt, ist der 8. Mai 1945 unbestreitbar ein Tag der Befreiung von Gewalt, Terror und Krieg, von staatlich verordneter Menschenverachtung und Barbarei. Und ein Tag der Dankbarkeit gegenüber denen, die ihr Leben riskierten, um die Menschheit, einschließlich unserer Vorfahren und somit auch uns, von diesem Joch zu befreien. Und ein Tag der Verantwortung, nicht nur die Demokratie und die Menschenrechte zu stärken und zu bewahren, sondern auch jede antidemokratische oder menschenverachtende Tendenz im Keim zu ersticken.

get connected